Gitti John wurde 1930 in Berlin-Kreuzberg geboren. In ihren Memoiren erinnert sie sich an die Spiele ihrer Kindheit.
Ich war eine echte Berliner Göre, ein richtiges Kreuzberger Straßenkind. Die Stadt war mein Spielplatz! Rollschuh fahren auf der Oberbaumbrücke, über Bänke hopsen in der Bevernstraße und Schlittschuh laufen oder rodeln in Treptow – ich kannte keine Langeweile.
Meiner großen Clique und mir fiel immer etwas ein. Wir hatten tolle Spiele! Springseil springen und getrieselt haben wir auch. Für das Triesel, also einen Kreisel, brauchten wir eine Peitsche mit einer Schnur. Die wurde um den Kreisel gewickelt und dann ging es zack und der Kreisel drehte sich. Und wir schlugen und schlugen die Peitsche, denn je weiter der Kreisel flog, desto schöner war es. Wir hatten vorher zwei, drei Knoten in die Schnur gebunden, damit es richtig schön peitschte. Oben war ein Loch und da wurde die Schnur durchgeführt. Mir riss immer die Schnur und wenn ich sie nicht wieder durch das Loch der Peitsche gefummelt bekam, musste ich die vier Treppen zu Oma hochlaufen und betteln: „Oma, machst du meinen Triesel-Stock wieder in Ordnung?“
Manchmal drehten wir Kinder uns auch selbst, beim Mühle-Spiel. Dafür hielten wir uns immer zu zweit über Kreuz an den Händen und drehten uns und drehten uns. Einmal wurde mir dabei so schwindelig, dass ich auf den Hinterkopf fiel. Ich war so trieselig. Hingefallen bin ich auch einmal mit meinen Rollschuhen. Ich hatte mich an einem Müllwagen festgehalten und geriet bei voller Fahrt in die Straßenbahnschienen. An einer Wasserpumpe wusch ich das Blut ab und Dr. Maaß klebte ein Pflaster auf mein Knie.
Wir liebten es, ins Kino zu gehen
Doch bald tat es nicht mehr weh und ich saß mit meinen Freunden wieder auf der Oberbaumbrücke und beobachteten die anderen Leute: Wenn wir Glück hatten, kamen zwei Liliputaner vorbei, denen wir nachlaufen konnten. Ja, wir waren schon frech! Oder wir entdeckten in der Menschenmenge das Gesicht eines ganz berühmten Filmschauspielers, den wir von unseren Sammelbildern kannten, die manchmal den Zigarettenschachteln beilagen. Das war aufregend.
Oh ja, der Film brachte uns ins Schwärmen und natürlich liebten wir es, ins Kino zu gehen. An der Ecke Köpenicker Straße / Bevernstraße war das „Maxim“, es hatte nur einen Saal und hinten im Vorführraum stand der Filmvorführer und kurbelte an der Rolle. Das Kino war so winzig, dass wir es immer „Flohkiste“ nannten. 50 Pfennige kostete eine Vorstellung. Wir drängelten und drängelten am Eingang, eine ganze Traube von Kindern stand vor der Tür und jeder wollte der Erste sein. Wir gingen allein ohne Eltern ins Kino. Popcorn aß man damals noch nicht, wir waren froh, dass wir die 50 Pfennig bekommen hatten. Wir sahen den Wildwestfilm „Die Schlacht am blauen Berge“, da waren die Jungs natürlich ganz wild drauf! Ich selbst guckte lieber Filme mit Shirley Temple, sie war so schön mit ihren Stocklocken. Wenn ich sie auf der Leinwand sah, war ich selig! Einmal wollten meine Freundin und ich einen Film anschauen, der erst ab 18 Jahren zugelassen war. Um älter auszusehen, schnappte ich mir den Fuchs meiner Mutter und drapierte ihn auf meinen Schultern. Der Plan ging allerdings nicht auf: Meine Freundin trug keinen Fuchs und wurde reingelassen, ich jedoch musste draußen bleiben.
Ich drückte mir an der Scheibe bald die Nase platt,
besonders in der Weihnachtszeit
Vielleicht lief ich dann stattdessen zum Moritzplatz oder in die Leipziger Straße zum Kaufhaus Wertheim und schaute mir die Spielsachen in den Schaufenstern an. Ich drückte mir an der Scheibe bald die Nase platt, besonders in der Weihnachtszeit. Jedes der Schaufenster war dann anders geschmückt mit beweglichen Teddybären und fahrenden Spielzeugeisenbahnen. Begeistert begleitete ich auch meine Oma zur Rentenstelle am Köllnischen Park. Ich wollte gar nicht mit ins Amt, ich wollte lieber draußen warten. Denn im Nebenhaus befand sich ein Laden, in dem ein kleiner Affe lebte. Sobald sich jemand der Fensterscheibe näherte, zog sich das Äffchen einen Sack über den Kopf. Ich liebte diesen Affen und war völlig gefesselt! Nach einer Weile nahm er sich den Sack wieder ab und tanzte ein bisschen umher. Die Stadt war mein Spielplatz!
Wenn ich aber einen bestimmten Ort mit meiner Kindheit verbinde, dann ist es wohl unser Wohnhaus in der Bevernstraße[1] Nummer 2 in Kreuzberg, zwischen dem U-Bahnhof Schlesisches Tor und dem Gröbenufer[2] an der Spree. Heute steht an dieser Stelle ein schmuckloser, weißer Neubau, aber wir wohnten damals in einem prächtigen Berliner Haus mit schönen Flügeltüren, Parkett, hohen Decken und einer schicken Fassade. 1936 waren wir in dieses Haus gezogen – ich ging damals in die erste Klasse der Dritten Volksschule in der Köpenicker Straße, sie war nur einen Katzensprung von unserer Wohnung entfernt.
Pferdeäpfel waren der beste Dünger für meine Tomatenpflanzen
Es war ein Glücksfall, dass wir diese Wohnung bekommen hatten: Meine Mutter hatte zufällig auf dem Weg zur Arbeit ein Pappschild mit der Aufschrift „Wohnung zu vermieten“ entdeckt. In der Bevernstraße hatten früher viele Offiziere gewohnt, die in der Kaserne in der Wrangelstraße gearbeitet hatten, darum war die Wohnung auch so toll. Sogar eine Loggia und unseren eigenen Balkon hatten wir! Von dort aus konnten wir bis zur Oberbaumbrücke blicken. Auf der einen Balkonhälfte pflanzte Oma Petunien und Geranien, auf der anderen Hälfte durfte ich in zwei Blumenkästen Tomatenpflanzen anbauen. Es gab ja viele Pferdefuhrwerke damals und meine Oma gab mir einen Tipp: „Geh mal runter, dann hast du später schöne Tomaten.“ Ich griff mir Müllschippe und Handfeger, rutschte auf unserem prächtig geschwungenen Treppengeländer die vier Etagen nach unten und zog dann los, um Pferdeäpfel von der Straße aufzusammeln. Damit düngte ich meine Tomatenerde.
Unsere Wohnung kostete 74 Mark im Monat und war für damalige Verhältnisse nahezu luxuriös ausgestattet – wir hatten einen eigenen Telefonanschluss und schon ein Badezimmer mit einer richtig schönen, schweren Gussbadewanne. Wunderbar! Neben der Wanne thronte ein schmaler, sicher zwei Meter hoher Badeofen, den man anschüren musste. Durch die glühenden Kohlen wurde das Badewasser erhitzt und konnte dann heiß in die Wanne fließen. Manchmal war das Wasser so heiß, dass wir noch kaltes Wasser zulaufen ließen. Ach ging es uns gut! In unserer alten Wohnung am Luisenufer Nummer 2 hatten wir nur eine einfache, kleine Zinkbadewanne besessen. Sie war bei Bedarf in die Küche gestellt und mit heißem Wasser befüllt worden. Dann wurde ich reingesetzt und gebadet.
Wir waren nicht begütert, für meine Familie war dieser Umzug vom Luisenufer in die Bevernstraße einem echten Aufstieg gleichgekommen. Am anliegenden Gröbenufer, mit Blick auf die Spree, wohnte die wohlhabenderen Familien. Zum Beispiel die Familie Krause. Herr Krause fiel im Zweiten Weltkrieg und Frau Krause lebte dann allein mit ihren fünf Kindern Jutta, Brunhild, Renate, Rosemarie und Sibylle. Wenn die Mutter arbeiten ging, holten die Mädchen mich und andere Kinder immer hoch in die Wohnung. Dort hing ein großes Bild des verstorbenen Mannes an der Wand und darunter blitzte sein Säbel.
Wir spielten alle miteinander, egal, ob wir am Ufer oder im Hinterhaus wohnten, egal ob Mädels oder Jungs. Der Hollemann zum Beispiel, der eigentlich Horst Behnke hieß, wohnte in der Volksschule. Auf den war ich immer ganz scharf, denn seine Eltern hatten den Schulhausmeister-Posten und so konnte Hollemann jederzeit in die Turnhalle spazieren, um die schönsten Lederbälle zu holen. Wenn er mit dem Ball unterm Arm ankam, war ich schon selig und wir riefen die anderen Kinder zum Völkerball spielen. Hollemann und ich machten tiptop, um Mannschaften auszuwählen. Wir stellten uns also gegenüber und liefen tippelnd aufeinander zu, ein Fuß musste direkt vor den anderen gesetzt werden. Wer als letzter seinen Fuß komplett aufsetzen konnte, durfte als erster einen Mitspieler auswählen. Hollemann und ich spielten meist gegeneinander und blieben immer bis zuletzt im Feld. Der Junge hatte einen ganz schönen Schlag, das rumste!
Wir spielten mitten auf der Straße. Die einzigen Autos,
die damals fuhren, waren Taxis und ein paar wenige Lieferwagen
Wir spielten mitten auf der Straße. Die einzigen Autos, die damals fuhren, waren Taxis und ein paar wenige Lieferwagen, und Pferdekutschen gab es. Zum Beispiel rollte manchmal der Eismann mit einem Pferdewagen voller Eis vorbei. Er fuhr von Haus zu Haus und verteilte an die Haushalte Eisstangen. Sie schmeckten nicht nach Schokolade oder Erdbeere, sondern bestanden einfach aus gefrorenem Wasser. So etwas konnten sich nur die feinen Leute leisten, denn dafür brauchte man einen Eisschrank. So ein Schrank funktionierte ohne Strom. Damit er kühl blieb, legte man einfach eine Eisstange hinein. Jedenfalls hielt der Eismann vor den einzelnen Häusern und haute mit einem Pickel das Eis zurecht, dann legte er die Eisstangen über seine Schulter und verschwand in einem Wohnhaus. Sobald die Tür hinter ihm zugefallen war, huschten wir Kinder zu der kleinen Wagentür und schnappten uns die Eissplitter, die beim Hauen abgefallen waren. Die schleckten wir ab. Das war toll!
Ich hatte früh gelernt, mich über kleine Sachen zu freuen. Mein Vater Gustav war nur ein einfacher Kraftwagenfahrer, meine Mutter Frieda arbeitete als Stenotypistin und meine Oma Elise passte auf mich auf. Wenn Papa freitags seinen Lohn ausgezahlt bekommen hatte, machte er immer noch einen kleinen Umweg zur Oppelner Straße, dort verkaufte Frau Gnädig die schönsten Wurstwaren. Sobald Papa dann die Wohnung betrat und ich das rosa Fleischer-Papier aus seiner schwarzen Aktentasche hervorblitzen sah, wusste ich, dass er beim Metzger gewesen war. Er hatte unsere Lieblingswurst gekauft. Meine Mutter aß gerne Schweinebraten mit Kruste und ich mochte am liebsten Hackepeter. Doch die Wurst war schnell weggegessen und Mitte der Woche wurde es schon knapp. Aber erst am Freitag gab es wieder Geld. Dann hieß es mittwochs oft: „Gitti, geh mal mit der Milchkanne runter zum Otto Pofahl und lass anschreiben.“ Oh, wie ich diesen Satz hasste.
Herr Pofahl hatte einen Tante-Emma-Laden gleich bei uns in der Bevernstraße. Hier kauften wir Milch und Seife und alles, was wir brauchten. Am Monatsende schickten mich manchmal auch Uroma Auguste und meine Oma zu Herrn Pofahl. Die beiden Frauen bekamen nur eine kleine Rente, aber die Auszahlung am Monatsende feierten sie umso fröhlicher: „Geh mal runter und hol uns eine Flasche Drei-Sterne-Schnaps“, sagten sie dann zu mir.
Wir suchten in den Telefonbüchern nach den ulkigsten Namen
und riefen bei den Leuten an
Pofahls Tochter Sigrid war eine Freundin von mir. Sie war clever und musste ihre Hausaufgaben immer gleich nach der Schule erledigen. Sie ließ mich oft abschreiben, denn ich war ein bisschen nachlässig, ich hatte keine Lust Hausaufgaben zu machen, ich wollte lieber spielen. Mit Sigrid verbrachte ich manchmal ganze Nachmittage in der runden Telefonzelle am Bahnhof Schlesisches Tor. Wir suchten in den Telefonbüchern nach den ulkigsten Namen und riefen bei den Leuten an: „Ach, Frau Sauerbier! Wie geht's Ihnen denn?“ Dann hängten wir den Hörer schnell wieder auf. Das war köstlich, wir lachten uns fast kaputt und suchten gleich wieder den nächsten Namen raus.
Herr Pofahl kannte mich und meine Familie also recht gut. Wenn ich anschreiben lassen musste, nannte Herr Pofahl mich beim Namen meiner Mutter: „Na Frieda! Willste dein Geld bezahlen?“ Das ärgerte mich. „Ich heiße Gerda!“, gab ich dann beleidigt zurück. Lustiger war es bei Herrn Pofahl natürlich, wenn ich ein paar Münzen dabei hatte, und waren es auch nur zehn Pfennige. Die konnte ich mir verdienen, ich musste nur schnell genug sein. In unserem Hinterhaus wohnte nämlich ein Würstchenfabrikant. Wenn er nach einem langen Markttag am Abend mit seinem Würstchenauto um die Ecke bog (ja, dieser Mann hatte tatsächlich schon ein Auto!), rannte ich sofort los und riss die große Haustür auf, damit er in den Hof konnte. Dann griff er immer in die Tasche und gab mir als Belohnung zehn Pfennige. Damit lief ich gleich rüber zum Tante-Emma-Laden und kaufte mir Gummipuppen und Dauerlutscher oder diese Veilchenpastillen, die immer ein bisschen nach Medizin schmeckten.
Zehn Pfennige zu haben war also toll und einmal hatte ich sogar ein Fünf-Mark-Stück. Doch oh Schreck! Die Münze fiel mir runter und rollte durch das Gitter über einem Kellerfenster. Ich wagte nicht, meiner Mutter dieses Unglück zu beichten. Also nahm ich mir eine Strippe und einen Löffel und versuchte die Münze durch die Ritze wieder rauszuziehen. Ich probierte und probierte und ehe ich das Ding erwischte, waren Stunden vergangen. Aber am Ende hatte ich Erfolg.
[1] Benannt ist die Straße seit dem 20. Februar 1895 nach dem preußischen Infanteriegeneral August Wilhelm von Braunschweig-Wolfenbüttel-Bevern (1715-1781).
[2] Das Gröbenufer wurde 1895 benannt nach Otto Friedrich von der Groeben (1657–1728), der 1683 als Leiter einer Westafrika-Expedition im Auftrag des Großen Kurfürsten die brandenburgische Kolonie Groß Friedrichsburg im heutigen Ghana gegründet hatte. Seit 2010 trägt die Straße den Namen May-Ayim-Ufer. May Ayim (1960-1996) hatte eine deutsche Mutter und einen ghanaischen Vater, sie engagierte sich als Dichterin, Pädagogin und Aktivistin der afrodeutschen Bewegung.
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