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Lychener Leute

Ein Leben im Urlaubsort

Das lila Haar und das Fahrrad sind ihr Markenzeichen: Anneliese Tisch (84)
Das lila Haar und das Fahrrad sind ihr Markenzeichen: Anneliese Tisch (84), hier an der sogenannten Knippschere zwischen Oberpfuhl und Zenssee

„Ich habe immer dort gelebt, wo andere Urlaub machen. Schon meine Eltern hatten regelmäßig Feriengäste. Irgendwie brauche ich das: Menschen um mich herum. Wenn ich nur allein zu Hause säße, würde ich eingehen. 

Aufgewachsen bin ich in Küstrinchen. Meine Mutter Charlotte, eine geborene Müller, und mein Vater Arthur Döring betrieben dort eine Landwirtschaft, einen Tante-Emma-Laden und den „Gasthof zur Höhe“. Dieser Name stand auf einem gelben Schild mit schwarzer Schrift, das sehe ich noch genau vor mir – genauso wie das Pony, das vor dem Haus immer graste.  

Als ich im Sommer 1945 eingeschult wurde, gab es im Dorf-Schulhaus Küstrinchen nur ein einziges Klassenzimmer für alle Kinder; unterrichtet wurden wir von einer Hilfslehrerin. So kurz nach dem Krieg ging alles drunter und drüber. Es gab keine Tafel, kaum Stifte und nicht einmal Papier – deshalb mussten wir auf alte Briefe schreiben: dahin, wo zwischen den Zeilen noch ein weißer Fleck war – oder auf die Rückseite. Obwohl mein Opa Musiklehrer war und meine Mutter Klavier spielte, bin ich selbst leider vollkommen unmusikalisch. Ich konnte so schlecht singen, dass mich der Lehrer im Musikunterricht auf die letzte Bank steckte, zu den Jungs, die gerade Stimmbruch hatten.

Der frühere Gasthof in Küstrinchen
Der frühere Gasthof in Küstrinchen

Ab der sechsten Klasse mussten wir zur Schule nach Lychen. Das hatte zwei Gründe: Zum einen konnte unser Lehrer Herr Hanke kein Russisch, sondern nur Englisch, wir sollten jetzt aber Russisch lernen. Zum anderen waren wir ohnehin nur zehn, zwölf Schüler in Küstrinchen. Wenn das Schulamt kam, hatte unser Lehrer schon immer getrickst und einfach ein paar ältere Mädels mit in die Klasse gesetzt. Die sollten sich dann lange, brave Zöpfe flechten, damit sie jünger aussahen und unsere Klasse größer wirkte. Aber es nützte alles nichts. Bald mussten wir Kinder nach Lychen und der Lehrer auch. 

Wir wurden jeden Tag mit einem kleinen Schulbus abgeholt. Besonders auf dem Rückweg ärgerten wir den Fahrer immer sehr, so dass er schimpfte. Manchmal mussten wir deshalb schon vor dem Dorf aussteigen und den restlichen Weg laufen. Nach acht Jahren ging ich von der Schule ab. Meine Eltern hätten ihr einziges Kind zwar gern auf der Oberschule gesehen, aber so lieb war mir die Schule nicht, obwohl ich immer guter Durchschnitt war. 

Ich fuhr dann oft nach Berlin. Wir hatten, wie gesagt, immer Urlauber. Das waren hauptsächlich Berliner, die jedes Jahr wieder zu uns kamen. Einer von denen hatte eine Kneipe in Westberlin, im Wedding, wo ich an den Wochenenden half und mir Westgeld verdiente. Das machte mir Spaß, und wie man eine Kneipe führt, das kannte ich ja von zu Hause. 

Baden an der Schleuse in Küstrinchen: Anneliese Tisch im Sommer 1943 mit ihrer Tante Hildegard.

Von dem Geld kaufte ich mir Schuhe oder diese schicken Nylonstrümpfe mit schwarzer Naht, die damals gerade aufkamen. Ach, das war ja alles immer was Besonderes! Unterwegs im Zug wurde kontrolliert, denn Sachen aus dem Westen durfte man nicht dabeihaben. Ich war aber clever und brachte die Schuhe noch im Westen zur Post, um sie nach Hause zu schicken – übrigens immer nur einen Schuh einzeln, oder von einem Paar den linken und vom anderen Paar den rechten. So sind sie immer angekommen – denn wer kann schon was mit einem einzelnen Schuh anfangen? 

Obwohl es in Westberlin viele schöne Dinge gab, habe ich nie überlegt, dort zu bleiben. Nee, Großstadt ist nichts für mich. Ich konnte im Wedding immer kaum schlafen, weil die ollen Straßenbahnen vor dem Fenster quietschten und bollerten. Oh, das machte mich immer ganz nervös! Später hatte ich manchmal Angst, dass ich vielleicht mal in einer anderen Gegend als Lychen landen würde. Aber das war zum Glück nicht so, ich bin immer hiergeblieben. 

Eines Tages saß bei uns im Gasthof der Chef eines landwirtschaftlichen Betriebs. Er bot mir an, bei ihm in Lychen im Büro zu arbeiten. Wenn es nach meinen Eltern gegangen wäre, hätte ich lieber zu Hause bleiben und helfen sollen. Aber ich wusste, wie viel Arbeit und Stunden in so einer Wirtschaft stecken! Damals kam das Wasser ja auch noch nicht aus der Wand und der Strom nicht aus der Decke. Im Hof stand eine Pumpe und der Herd wurde mit Holz angeheizt – das war alles aufwändig. Also entschied ich mich fürs Büro. 

Eine schnelle Angelegenheit

In der Zwischenzeit hatte ich – ebenfalls bei uns in der Kneipe – meinen Richard kennengelernt. Der war mit seinen Eltern aus dem polnischen Łódź gekommen; sie hatten dort zur deutschen Minderheit gehört. Wie die meisten Polendeutschen wollten sie nach Westdeutschland, waren aber erst am 26. August 1961 aus Polen rausgekommen ­– und zwei Wochen zuvor war ja die Grenze dichtgemacht worden. Also landeten Richard und seine Familie mit ihren beiden Koffern in der DDR. Wir wurden ein Paar und haben schon am 14. August 1962 geheiratet. Vor 60 Jahren! 

Die Hochzeit war eine schnelle Angelegenheit: Wir gingen zu zweit aufs Standesamt und waren fünf Minuten später wieder zu Hause. Wir wollten gar nicht groß feiern, wir hatten schließlich kein Geld. Aber als wir dann frisch verheiratet nach Küstrinchen fuhren, wartete bei meinen Eltern das ganze Dorf, die Stube stand voller Blumen und mein Vater holte ein paar Flaschen Sekt aus dem Keller. Das war ein Trubel! Es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich meine Mutter betrunken gesehen habe.

Die Büroarbeit machte mir auf Dauer keinen Spaß, deshalb kam ich darauf, als Verkäuferin zu arbeiten – auch das kannte ich ja schon von meinen Eltern. Im Konsum wurde ich von einer Kollegin angelernt, die zwar unfreundlich, aber fachlich sehr gut war – von der konnte ich mir viel abgucken. Die Lehrzeit hat nicht lange gedauert: Am Sonntag wurde ich 18 und gleich am Montag übernahm ich eine Verkaufsstelle: die in der Berliner Straße, gegenüber der Maschinen-Traktoren-Station, dort, wo heute der rote Netto ist. 20 Jahre habe ich dort gearbeitet. 

Karierte Strümpfe zum Bewerbungsgespräch

Bis ich Mitte der 1970er-Jahre einen Aushang sah, dass für die Schwerhörigen-Schule neben der Kirche (heute Betreutes Wohnen) Erzieherinnen gesucht werden. Mit kleinen Kindern umzugehen, hatte mir immer Spaß gemacht, also bewarb ich mich. Der Direktor wollte mich erst nicht nehmen, weil ich lange, braun-beige-karierte Strümpfe trug, die ihm wohl gar nicht gefielen. Aber dann stellte er mich doch ein. Die Schüler kamen aus der ganzen nördlichen DDR, sogar von der Insel Rügen. Es waren so viele, dass das Gebäude bald zu klein wurde und 1981 eine neue Plattenbau-Schule mit Internat an der Straße nach Retzow eröffnet wurde. Die Arbeit machte Spaß, wir waren wie eine Familie. Wichtig war, dass wir Erzieherinnen langsam, laut und deutlich Hochdeutsch sprachen – denn die Kinder lasen uns viel von den Lippen ab. 

Hochdeutsch kann ich heute nicht mehr so gut. Aber das laute Sprechen habe ich mir nicht mehr abgewöhnen können, so tief ist das in mir drin.“ 
Juliane Primus

Anneliese Tisch wurde am 10. Februar 1939 als Anneliese Döring in Küstrinchen geboren. Sie arbeitete lange Jahre im Konsum und in der Schwerhörigen-Schule. Als die Schule kurz nach der Wende aufgelöst wurde, machten sich Anneliese Tisch und ihr Mann mit einem Bootsverleih am Oberpfuhl selbstständig. Die ersten Tretboote kamen aus Lychens Partnerstadt Hopsten. Frau Tischs Markenzeichen ist das lilafarbene Haar– die Friseurtermine für das kommende Jahr hat sie schon vereinbart. 

Der Text ist zuerst in der Neuen Lychener Zeitung erschienen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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