2016 floh Jawed Golagha mit seiner Frau und den gemeinsamen Töchtern aus Afghanistan. Ein verschlungener Weg über den Iran, die Türkei und Griechenland führte die Familie nach Lychen.
„Wenn ich heute aus dem Fenster schaue, sehe ich grüne Bäume und den Lychener Stadtsee, auf der großen Wiese spielen Kinder Fußball, auf der anderen Seite des Zauns spazieren Touristen. Nein, ich vermisse Afghanistan nicht.
Ich wurde 1982 in Kabul geboren, 6.000 Kilometer von Lychen entfernt. Damals gab es noch die Demokratische Republik Afghanistan. Als ich zehn Jahre alt war, ist das Land zerbrochen – die sowjetische Armee zog ab und überall herrschte Chaos. Unter der Übergangsregierung brachen die staatlichen Strukturen weitgehend zusammen. Afghanen brachten sich gegenseitig um. Es gab weder Strom noch Wasser noch etwas zu essen, ich lebte mit meinen Eltern und meinen Geschwistern im Keller. Der letzte demokratische Präsident Nadschibullāh wurde von den Taliban gefoltert und getötet.
Täglich drei oder vier Explosionen
Ich habe in Afghanistan nie eine Schule besucht. Etwas Lesen und Schreiben habe ich mir selbst mithilfe des Korans beigebracht. Um meine Familie zu versorgen, arbeitete ich als Hilfspolizist. Ich suchte Hinweise: Wo plant jemand einen Anschlag? In welchem Auto sitzen Leute mit Waffen? Täglich sah ich drei oder vier Explosionen. Zweimal war ich mittendrin, konnte mich aber zum Glück ducken. Ich sah Rauch, hörte Glas zerspringen und die Schreie und das Weinen der Menschen.
In Kabul hatten wir jeden Tag Angst. Jeden Tag! 2016 beschlossen meine Frau Elaha und ich deshalb, mit unseren drei Töchtern das Land zu verlassen. Sie waren damals zwei, fünf und sieben Jahre alt. Wir verkauften unser kleines Haus und flüchteten Hals über Kopf – ohne zu wissen, wo wir landen würden. Wir wollten einfach nur weg.
Eine Flucht Hals über Kopf
An der iranisch-türkischen Grenze mussten wir zwölf Stunden im Schnee ausharren, mitten im Gebirge. Es gab kein Essen, kein Feuer, keine Polizei. Der Wind tobte und der Schnee war so tief, dass wir bis zu den Hüften einsanken. Meine Hände waren gelb vor Kälte. Das war ein schlimmer Moment. Die kleinen Mädchen sagten nichts mehr, sie weinten nur. Ich betete zu Gott: „Bitte hilf uns!“
Um von der Türkei nach Griechenland zu gelangen, mussten wir an Schleuser so viel bezahlen, dass wir danach kein Geld mehr hatten. 10.000 Euro pro Person! Während der Flucht wurden unsere Taschen geklaut. So haben wir auch das Video von unserer Hochzeit verloren. Das ist sehr, sehr traurig, denn nun können wir es unseren Töchtern nicht mehr zeigen.
Vier Jahre lang blieben wir in Athen, im Eleonas-Camp. Dort lebten 2.000 Menschen: Afghanen, Syrer, Iraker, Iraner. Es war überfüllt und es gab täglich Streit, auch mit Messern. Meine älteste Tochter Bahara musste einmal mit ansehen, wie ein Mann einen anderen erstochen hat. Trotzdem sind wir dankbar: In Griechenland haben wir Ausweise bekommen und konnten mit dem Flugzeug nach Deutschland ausreisen.
Wir landeten in Berlin und kamen über Frankfurt/Oder, Eisenhüttenstadt und Zossen letztlich nach Lychen in den Sonnenhof. Etwa zur gleichen Zeit wurde unsere jüngste Tochter Yasmina geboren. In Griechenland hatte man uns gesagt, dass die Deutschen nicht nett wären – aber das stimmt nicht. Uns haben viele Menschen unterstützt. Hier in Lychen zum Beispiel Sara Cato. Sie ist eine sehr gute Frau und hat meiner Frau und mir geholfen, Deutsch zu lernen.
Jeden Tag neue deutsche Worte
Am Anfang fiel es uns schwer, die Sprache zu lernen. Aber inzwischen geht es besser – wir suchen jeden Tag nach neuen Worten. Wenn ich etwas Neues höre, schreibe ich es gleich auf. Heute zum Beispiel habe ich gelernt: „Gute Besserung! Sie ist erkältet. Sie hat Fieber und Husten.“ Das weiß ich nun alles, weil ich am Vormittag mit meiner kleinen Tochter beim Arzt war.
Es ist nicht immer einfach, sich aufs Lernen zu konzentrieren. Wir leben zu sechst auf 55 Quadratmetern, auf dem Sonnenhof gibt es viele Kinder und unsere Nachbarn spielen auf dem Balkon manchmal Fußball. Da ist viel los! Aber wir sind fleißig und lernen, wann immer es geht – denn in Deutschland zu leben, das war unser Traum. Und um den zu verwirklichen, müssen wir die Sprache beherrschen. Unsere drei großen Mädchen gehen in Lychen zur Schule. Bahara, die Älteste, hat viele Freunde und möchte Pilotin werden.
Meine Frau darf lernen und muss kein Kopftuch tragen
Lychen ist sehr schön, besonders im Sommer. Ich habe hier sogar schwimmen gelernt! Geangelt habe ich nur einmal, denn wenn mich ein Fisch anschaut, weint mein Herz und ich möchte ihn wieder ins Wasser lassen. Uns gefällt die Ruhe hier. Aber auf Dauer können wir wahrscheinlich nicht in Lychen bleiben. Ich kann zwar Auto fahren, doch ich habe keinen Führerschein und kein Auto. Dass es in Lychen keinen Bahnhof gibt, stellt uns vor viele Schwierigkeiten.
Manchmal sprechen meine großen Töchter davon, nach Afghanistan zurückzukehren. Aber ich sage dann: „Bitte nicht. Wir haben jetzt ein neues Leben.“ In den Nachrichten sehe ich, dass es in Afghanistan seit unserer Flucht nicht friedlicher geworden ist. Es gibt immer Streit zwischen Sunniten und Schiiten. Die ermorden sich gegenseitig – ich verstehe das nicht. Hier müssen wir keine Angst vor Bomben haben. In Kabul musste meine Frau immer zu Hause bleiben und durfte nur Hausfrau sein. Hier ist es anders: Sie darf lernen, sie muss kein Kopftuch tragen, sie ist frei und glücklich. Und meine Töchter dürfen zur Schule gehen. Ich glaube, wir haben eine schöne Zukunft vor uns.“
Aufgezeichnet von Juliane Primus
Jawed Golagha wurde am 1. Januar 1982 in der afghanischen Hauptstadt Kabul geboren. Mit seiner Frau und den vier Töchtern lebt er seit etwa einem Jahr im Sonnenhof, der Lychener Unterkunft für Geflüchtete. Seine Muttersprache ist Dari-Persich, er spricht aber auch Englisch und ein bisschen Griechisch; im Moment lernt er Deutsch. Jawed Golaghas großes Ziel ist es, die deutsche Führerschein-Prüfung zu bestehen und als Lkw-Fahrer zu arbeiten: „Dann mache ich eine große Party.“
Der Artikel ist zuerst in der Neuen Lychener Zeitung erschienen.