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Lychener Leute
In einem anderen Land

Als Kind verbrachte Antje Wortmann ihre schönsten Sommer bei der Oma in Lychen. Dann wurde die Mauer gebaut und die Oma war plötzlich in einem anderen Land. Nach der Wende kehrte Antje Wortmann zurück.


Antje Wortmann (79) in ihrem schönen Cottage-Garten.

"Lychen war für uns Kinder das Paradies! Kaum hatten mein Bruder Arno und ich die Koffer bei unserer Großmutter abgestellt, schon lagen wir bäuchlings auf dem Steg am Oberpfuhl und fingen Krebse. Dafür hatten wir Stöcke, die unten aufgeschlitzt waren – mithilfe eines eingeklemmten Stöckchens blieb der Schlitz stehen. Zack! Klemmte der Krebs dazwischen. Ja, man musste geschickt sein. 

Meine Großmutter wartete dann schon mit dem großen Kochtopf. Ich weiß gar nicht mehr, was wir als Beilage aßen, denn wir Kinder waren mit Pulen beschäftigt. Auch meine Großmutter untersuchte jeden Kopf, und wenn sie Glück hatte, fand sie eine Flussperle. Ich habe ein paar alte Schmuckstücke, die mit kleinen Perlen besetzt sind.

Schmuckstücke aus Lychener Flussperlen

Wenn wir nicht gerade Krebse fingen, badeten mein Bruder und ich bis zum Gehtnichtmehr. Mit vier Jahren hatte mich meine Mutter in den Oberpfuhl geworfen, seitdem konnte ich schwimmen. Die offizielle Badestelle war auf der anderen Seeseite und weil Herr Schmidt, der Nachbar meiner Großmutter, einen Bootsverleih hatte, ruderte er uns immer rüber. Wenn man wieder zurückwollte, musste man nur mit dem Tuch winken, und Herr Schmidt holte einen ab. Dann stärkten wir uns erstmal mit Blaubeerkuchen von Bäcker Schönfeld. 

Das war alles wunderschön. Und wir hatten ein Haus und einen Garten, in dem ich graben, Karotten und Radieschen säen konnte. Das war anders als zu Hause in Gorleben, westlich der Elbe, wo wir eben die Flüchtlinge waren und man uns das auch spüren ließ. Noch vor der Gründung der DDR waren meine Eltern in den Westen geflüchtet. Meine Oma jedoch wollte unbedingt in ihrer Heimat Lychen bleiben – vor allem um auf das Haus aufzupassen, in dem schon die Eltern meines Großvaters gelebt hatten. Er hieß Emil Piper und war Fischermeister. Ich kenne ihn nur aus Erzählungen, denn 1945, als die Russen in Lychen einmarschierten, erhängte er sich auf dem Dachboden.

Bis 1960 fuhr ich jedes Jahr zu meiner Oma. Als ich mit der Schule fertig war, ging ich ein Jahr nach England und danach noch ein Jahr nach Frankreich. In dieser Zeit wurde die Mauer gebaut, aber ich bekam das gar nicht so mit, und ich machte mir als junger Mensch auch wenig Gedanken darüber. Weil meine Großmutter schon betagter war, durfte sie meinen Mann Dietrich und mich 1963 in Hamburg besuchen. Es muss sich für sie angefühlt haben wie eine Weltreise! Sie stieg in den Interzonenzug und dann feierten wir in Hamburg zusammen ihren 80. Geburtstag. Heutzutage komme ich mir häufig vor wie meine Oma, ich kann mich in viele Situationen hineinversetzen. Sie musste ja auch sehen, wie sie hier in Lychen alleine mit allem durchkam: Handwerker ranholen, sich um alles kümmern. Das schlimme war, dass sie zusätzlich viel an der Nähmaschine saß, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Als Frau eines Selbstständigen hatte sie nie Rentenmarken geklebt.

Antje Wortmann im Sommer 1945 mit ihrem Vater an der Strandpromenade am Oberpfuhl.

1965 war meine Oma das letzte Mal bei uns und bald zog sie nach Templin ins Kirsteinhaus, ein evangelisches Altersheim. Um das Haus in der Stargarder Straße konnte sie sich nun nicht mehr kümmern, darum übergaben meine Mutter und Großmutter das Haus notariell zur Verwaltung an die Stadt.

Immer wenn es meiner Großmutter nicht besonders gut ging, wurde meine Mutter angerufen. Sie lebte inzwischen in Dänemark, ließ dort aber sofort alles stehen und liegen und fuhr nach Templin. Meist übernachtete sie im Besucherzimmer des Kirsteinhauses, aber einmal, im März 1976, wohnte sie bei Freunden in Groß Dölln. Dort erlitt sie einen Herzinfarkt. Die Groß Döllner kannten einen Pfarrer, der ein Auto besaß und meine Mutter dann ganz schnell nach Templin ins Krankenhaus fuhr. Sie konnte dem Tod noch einmal von der Schippe springen. Per Telegramm wurde nun auch ich nach Templin gerufen; mein Bruder und mein Vater reisten aus Dänemark an. 

Noch einmal dem Tod von der Schippe gesprungen

Wir konnten nicht ewig in der DDR bleiben, doch meine Mutter war auch nach Tagen nicht transportfähig. Bald fuhr ich zurück; mein Bruder und mein Vater reisten am nächsten Morgen ebenfalls ab. Ich war gerade zu Hause angekommen, da klingelte das Telefon. Die Groß Döllner sagten mir, dass meine Mutter nochmal einen doppelten Infarkt erlitten hätte. Diesmal hatte sie nicht überlebt. Ich versuchte nun die halbe Nacht, meinen Vater und meinen Bruder anzurufen. Ihr Schiff nach Dänemark ging erst um Mitternacht, und hätten sie rechtzeitig vom Tod meiner Mutter erfahren, wären sie gar nicht erst zurückgereist. Ich verstehe bis heute nicht, dass die Polizei nicht versucht hat, meinen Vater und meinen Bruder in Warnemünde abzufangen. Das wäre ein Leichtes gewesen.  

Als ich meinen Vater in Dänemark erreichte, fuhr er postwendend zurück nach Templin. Und dann ging das Drama los, meine Mutter hier herauszubekommen. An der Grenze musste der Sarg geöffnet werden. Das war schlimm. Mein Vater war fix und fertig, als er in Dänemark ankam.

Dann kam die Wende

Nun hatte meine Großmutter ihre Tochter überlebt. Man hatte ihr zunächst nicht einmal gesagt, dass sie überhaupt im Krankenhaus lag. Meine Großmutter spürte aber, dass meine Mutter in der Nähe war, und fragte immer: „Warum kommt sie denn nicht zu mir ins Zimmer?“  Zum Schluss musste man es ihr aber sagen, und von der Stunde an aß und trank sie nicht mehr. Noch im April ist sie eingeschlafen. 

Nie hätte ich gedacht, dass ich nochmal zurückkehren würde. Lychen war gedanklich sehr weit weg. Aber dann kam die Wende, und gleich 1990 fuhren Dietrich und ich hierher. 

Ich stand vor dem Haus und dachte: „Es sieht genauso aus, wie ich es verlassen habe.“ Es hatte sich nichts verändert. Selbst die rote Farbe im Treppenhaus war noch die gleiche, und im Garten stand die alte Holzbank. Für mich war sehr schnell sehr klar, dass ich das Haus und den Garten zurückhaben möchte – schon deshalb, weil meine Großmutter so viel auf sich genommen hatte, um das Erbe für uns zu erhalten. Das war für mich eine Verpflichtung, denn ich hatte meine Oma sehr gemocht.“

Aufgezeichnet von Juliane Primus

 

Antje Wortmann wurde am 8. Januar 1943 als Antje Werner im brandenburgischen Wittenberge geboren und wuchs in Gorleben, auf der anderen Seite der Elbe, auf. Sie arbeitete als Museumspädagogin und lebte in Hamburg und Schleswig-Holstein. 2004 zog sie mit ihrem Mann nach Lychen in die Stargarder Straße 8, wo schon ihre Großeltern gelebt hatten. Sie ist Mitinitiatorin des Tages der offenen Gärten in der Uckermark.

Der Artikel ist zuerst in der Neuen Lychener Zeitung erschienen.

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