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Lychener Leute
Hobeln, schleifen, Brände löschen

Horst Jähnke sah mit eigenen Augen wie am Ende des Zweiten Weltkriegs große Teile der Stadt abbrannten - dann half er dabei, sie wieder aufzubauen.

Horst Jähnke nutzt bis heute die motorisierte Bandsäge aus dem Jahr 1922 – hier für die Bearbeitung eines Wandbrettes für Jagdtrophäen. 

"In der Lindenstraße hat alles angefangen. In der damaligen Hausnummer 25, heute Nummer 11, hatte der Tischlermeister Karl Fischer seit 1872 seine Werkstatt. In den goldenen Wirtschaftsjahren der Kaiserzeit wuchs nicht nur die Werkstatt, sondern auch eine echte Patchwork-Familie mit 17 Kindern heran: Als Karls erste Frau gestorben war, heiratete er Bertha, meine leibliche Großmutter; und als wiederum Herbert starb, heiratete Bertha den Altgesellen Wilhelm Jähnke – meinen leiblichen Großvater. Ich will nicht von Liebe sprechen, das war wohl vielmehr eine Zweckbindung, denn die Kinder mussten satt werden und die Tischlerei brauchte einen neuen Chef. Der hieß nun Wilhelm Jähnke, und so waren bald weitere Kinder unterwegs, unter anderem mein Vater Hans, der wiederum auch fünf Geschwister hatte.

Das Sanatorium bringt eine Revolution

Um 1920 gab es in Lychen eine regelrechte Revolution: Im Zuge der Bauarbeiten des Lungen-Sanatoriums in Hohenlychen wurde die ganze Stadt elektrifiziert. In der Tischlerei Jähnke wurde 1922 die erste motorisierte Bandsäge angeschafft – eine echte Arbeitserleichterung! Und noch eine Veränderung brachte das neue Sanatorium für die Familie: Meine Mutter Betti, die Tochter eines Gutsinspektors aus dem Mecklenburgischen, ging in Hohenlychen als Hauswirtschafterin in Stellung. Nun hatte ich Eltern! Es sollte aber noch sieben Jahre dauern, bis Hans und Betti 1929 heirateten. 

Mein Bruder Klaus kam 1931 zur Welt, ich wurde 1934 geboren. Ich saß als kleiner Junge zwar bei meinem Opa häufig auf der Werkbank und schaute ihm beim Hobeln und Schleifen zu, aber der Wunsch, Tischler zu werden, war bei mir nicht ausgeprägt. Ich wollte viel lieber was Technisches machen. Aber es sollte anders kommen.

Gespenstisch erleuchtete Straße

Im November 1941 kam noch ein Ereignis dazwischen, das mein Leben gravierend beeinflussen sollte: Mein Bruder und ich wurden mitten in der Nacht aus dem Schlaf gerissen. Unsere Werkstatt stand in Flammen! Wir liefen rasch über die Straße zur Nachbarin, die uns mit wärmenden Sachen versorgte. Von ihrem Haus aus sah ich, wie die Flammen von unserer Werkstatt über das Dach unseres Wohnhauses schlugen. Die Straße war gespenstisch erleuchtet. Die Sirene war allein dem Luftschutz-Alarm vorbehalten und so mussten die Meldetrupps mit Nebelhörnern durch die Stadt blasen. Trotzdem schaffte es die Feuerwehr, den Brand zu löschen und so blieb der Schaden auf das Dachgeschoss begrenzt. Mich beeindruckte das sehr und ich konnte es kaum erwarten, der Freiwilligen Feuerwehr beizutreten. Als ich 15 war, wurde ich endlich aufgenommen. Bis heute bin ich Mitglied, also seit mehr als 70 Jahren.  

Horst Jähnke in den 1970er-Jahren in seiner Werkstatt am Markt bei der Arbeit an einem Nuss-Furnier.

Ungefähr genauso lange arbeite ich nun auch als Tischler. Und das kam so: Mein Bruder Klaus hatte am 1. April 1945 seine Lehre bei der Tischlerei Schmöcker begonnen. Das war eine große Tischlerei mit mehreren Werkstatt-Trakten, die sich von der Stadtmauer an der Schäferwiese bis zur Templiner Straße erstreckte. Um die 15 bis 20 Leute waren dort beschäftigt. Mein Bruder lernte aber nur 28 Tage bei Schmöcker, denn Anfang Mai brannte die gesamte Tischlerei ab. Es ist eine unübersichtliche Gemengelage: Die Russen belagerten die Stadt, Granaten fielen, die Bewohner verließen in aller Eile ihre Häuser. 

Eine riesige Rauchwolke über der Stadt

Nur ganz wenige Lychener blieben in dieser Zeit in der Stadt. Die meisten beobachteten die Ereignisse aus sicherer Entfernung. So wie wir: Meine Mutter war mit uns Kindern und mehreren Nachbarn auf die andere Seite des Oberpfuhls geflohen und dort versteckten wir uns im Wald. Es war schrecklich, die Stadt brennen zu sehen und nichts dagegen tun zu können. Es gab zwar eine sehr gute, schlagkräftige Freiwillige Feuerwehr mit modernen Fahrzeugen, aber diese wurden von einigen Familien zur Flucht vor der anrückenden Sowjet-Armee genutzt – und standen nun nicht mehr zur Verfügung. Zuerst brach in der Tischlerei Schmöcker ein Feuer aus, die Flammen arbeiteten sich dann vor zum Strandcafé. Über der Stadt lag eine riesige Rauchwolke, auch rund um den Markt loderten die Flammen. Insgesamt drei Viertel aller Häuser innerhalb der Stadtmauer brannten ab.

Als wir nach einer Woche zurück in die Stadt kamen, herrschte Chaos. Viele Häuser waren abgebrannt, alle lebten zusammengedrängt in den wenigen bewohnbaren Häusern. Da war es wichtig, dass es Tischler gab, die kaputte Fenster wieder zumachen oder undichte Stellen im Dach ausbessern konnten. Es gab ja so viel zu tun! Vor allem Särge mussten gebaut werden. 1945 starben laut Kirchenbuch in Lychen mehr als 500 Menschen. Viele begingen Selbstmord, weil der Krieg verloren war und die Sowjets einmarschierten; viele starben an Mangelernährung, Typhus und andere Seuchen grassierten. 

Ein Meisterstück mit Mahagoni-Furnier

Unter diesen Umständen sehnte ich mich nicht danach, woanders hinzugehen. Ich war auch niemand, der unbedingt von zu Hause wegwollte. Im Gegenteil. Der Familienzusammenhalt stand an erster Stelle und es war für uns alle wichtig, die Tischlerei am Laufen zu halten. Denn sie war unsere Existenzgrundlage. Also blieb ich in der Lindenstraße und ging wie auch Klaus bei meinem Vater in die Lehre. 

1959 legten Klaus und ich unsere Meisterprüfung ab. Der Meisterbrief hängt bis heute in meiner Wohnung, auch das Wohnzimmer-Büfett mit Mahagoni-Furnier, das ich als Meisterstück gebaut habe, steht in meinem Wohnzimmer. Es ist ein bisschen blass geworden mit den Jahren und müsste mal wieder aufgearbeitet werden. Aber es stimmt: Die Möbel, die ich gebaut habe, halten ein Leben lang. Nur einen Umzug zu machen ist mit diesen voluminösen Möbeln äußerst beschwerlich. Glücklicherweise musste ich nur einmal in meinem Leben umziehen. Ich bin 1960 in die Darrstraße gezogen und lebe immer noch hier. Wenn ich nicht gerade in meiner Werkstatt stehe."

Aufgezeichnet von Juliane Primus

 

Horst Jähnke wurde am 8. April 1934 in der Lychener Lindenstraße geboren. Nach der 8. Klasse ging er 1948 bei seinem Vater in die Tischler-Lehre und baute sein Leben lang im Familienbetrieb maßangefertigte Möbel, Fenster und Türen. Bruder Klaus und Neffe Heiko wagten 1990 einen Neuanfang und gründeten eine eigene Tischlerei mit industrieller Fertigung. Horst Jähnke ist bis heute ein Handwerker vom alten Schlag und nutzt weiterhin seine Bandsäge von 1922.

 

Der Artikel ist zuerst in der Neuen Lychener Zeitung erschienen.

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