Logo Memoiren Manufaktur

Lychener Leute

Flinke Hände, flotte Sohle

 

Die Lychenerin Anneliese Nennmann erinnert sich an die letzten Kriegsjahre und an ihre große Liebe.

Anneliese Nennmann an der Stelle, wo sich ihre Eltern zum ersten Mal begegneten.

"Ich bin eine echte Lychenerin. Das kann man wohl so sagen! Schon meine Großeltern, die Eltern meines Vaters, wurden hier geboren. Opa Albert arbeitete als Postbote in Hohenlychen und hatte einen richtig schönen Schnurrbart, wie Kaiser Wilhelm! Meine Oma Ida war Hausfrau, sie trug lange Kleider und ein Kopftuch – wie es für Frauen mit 50, 60 damals üblich war. So wie ich heute als 89-Jährige mit roter Jacke rausgehe, wäre damals keine Frau vor die Tür gegangen. So haben sich die Zeiten geändert.

Meine Mutter Martha war eine Berlinerin und eine sehr hübsche Frau. Ende der 1920er-Jahre machte sie Urlaub in Lychen. Ach, wie oft erzählte sie mir diese Geschichte, wenn ich mit ihr am Oberpfuhlsee zwischen Strandcafé und Malerwinkel spazierte: „Hier habe ich deinen Vater kennengelernt.“

Anneliese Nennmann als kleines Mädchen vor der Lychener Quelle am Spring, aufgenommen 1933.

Werner war zwei Jahre älter als sie und arbeitete als Büroangestellter bei Lindstedt, in der Pinnenfabrik. Er war ein netter, gutaussehender, stolzer Mann. Martha und er kamen am See ins Gespräch und trafen sich dann im Strandcafé. Das war wunderbar. Die Anlage war damals einfach wunderschön, mit zwei Türmen an der Seite und dem Platz davor. Lychen war wirklich ein schönes kleines Städtchen mit allem Drum und Dran.

Die beiden verliebten sich und Martha zog nach Lychen. Im August 1931 wurde geheiratet und drei Monate später wurde ich geboren. Zu Hause. Wir wohnten am Spring, der alten Quelle zwischen der heutigen Clara-Zetkin-Straße und der Springstraße. Früher war dort eine Molkerei.

Oft besuchte ich meine Großeltern in Hohenlychen, sie wohnten dort, wo heute der „Kunstplatz“ ist. Damals war auf dem Gelände der Heilanstalten das Schwimmbad mit dem Glasdach noch picobello. Dort habe ich schwimmen gelernt! Ich hatte als Kind nicht so viel Interesse dafür, was sich in Hohenlychen abspielte. Aber ich bekam mit, dass sich die hohen Herrschaften dort trafen. Sogar Adolf Hitler habe ich gesehen, zumindest von weitem. Wenn der Zug mit den Urlaubern aus Richtung Fürstenberg kam, war immer noch ein zusätzlicher Waggon angehängt, in dem die Gefangenen aus Ravensbrück mitfuhren. Sie trugen Holzschuhe und gestreifte Häftlingskleidung und wurden bewacht von den Weibern mit den Hunden. Das habe ich 100-prozentig selbst gesehen, denn wir bekamen immer viel Besuch aus Berlin. Es hieß, die Frauen würden für uns arbeiten. Aber was mit ihnen wirklich gemacht wurde, sahen wir nicht.

Eine Nacht in Angst

Als der Krieg zu Ende ging, floh die ganze Hautevolee in den Norden nach Schleswig-Holstein, Lübeck, Kiel, an die See. Wir flüchteten vor den Russen mit einem vollgeladenen Kahn über den Zenssee in den Wald. Dort buddelten wir ein anderthalb Meter tiefes Loch in den Boden und mit Ästen und Moos bauten wir uns eine Art Dach. Da versteckten wir uns. Die erste Nacht werde ich nie vergessen. Ach Gott, was hatten wir für eine Angst. Wir dachten, die Russen würden jeden Moment vor unserem Versteck stehen, aber es kamen doch nur die Wildschweine.

Von der anderen Seite des Sees hörten wir tagelang die Schreie der Frauen, die vergewaltigt wurden. Das war ganz schlimm. Nach zehn Tagen hatte sich die Lage ein bisschen beruhigt und wir schlichen uns zurück in unser Haus. Leider Gottes war unsere Wohnung in der Templiner Straße ausgebrannt und wir kamen für einige Zeit bei den Großeltern in Hohenlychen unter. Mit unserem Handwagen und den paar wenigen Sachen, die wir noch hatten, zogen meine Mutter und ich dann in die Springstraße. Mein Vater war schon nicht mehr da, den hatten sie bei einer Razzia mitgenommen, denn er war wie die meisten NSDAP-Mitglied gewesen. Nach einem halben Jahr hörten wir wieder was von ihm: Er war aus dem Lager in Waren an der Müritz geflüchtet, kurz vor dem Weitertransport nach Sibirien war ihm die Flucht gelungen. Nun versteckte er sich in unserer Höhle im Wald, aber um nicht wieder geschnappt zu werden, schlug er sich dann heimlich nach Berlin durch. Dort fand er eine neue Frau und die Ehe meiner Eltern brach auseinander. Schade.

Hauptsache viel Glanz und Glitzer

Ich ging in die Lehre bei Schneidermeisterin Lilly Schmidt in der Berliner Straße, schräg gegenüber der alten Apotheke. Lilly Schmidt verstand ihr Handwerk. Wir nähten zu 90 Prozent für die russischen Offiziersfrauen. Diese brachten ihre Stoffe selbst mit: wunderbare Seide und Samt in allen denkbaren Farben. Die Russinnen waren so verliebt in dieses Samtgewebe. Wunder-, wunderschön. Sowas hatten wir zuvor nie zu sehen bekommen. Die Frauen waren sehr modisch angezogen, schick und elegant. Sie suchten sich dann die Schnitte in alten Modeheften unserer Meisterin aus und danach wurde genäht. Hauptsache viel Glanz und Glitzer und Samt und die Kanten mit weißem Fell benäht und mit Perlen. Ach Gott, wir haben uns dumm und dämlich gestichelt. Ja ehrlich. Wenn für die Damen das Neujahrsfest anstand, arbeiteten wir zu dritt oder zu viert an einem Kleid. Da wurden prächtige Ballkleider genäht!

Wir Lehrlinge saßen mit unseren Nähmaschinen oben am Fenster und hatten eine gute Aussicht auf das gegenüberliegende Polizeirevier. Sechs oder sieben Mann arbeiteten dort und hielten Ordnung im Ort. Eines schönen Tages hieß es: "Du, da ist wieder ein Neuer angekommen!" Da illerten wir Mädchen und wenn die Meisterin mit den Damen im Anprobierzimmer war, guckten wir ganz genau rüber zur Polizei. Guck mal, guck mal! Na, wie Mädchen eben sind. Und dann kam Ostern und im Ratseck war Tanz. Wir Mädchen trafen uns dort mit unseren ganzen Kumpels von der Schule. Und wer war auch da? Der junge Polizist! Der gefiel mir, er war ein flotter junger Mann, sportlich und adrett. Wir Mädchen schlossen eine Wette: Wenn Damenwahl ist, holen wir uns den! Doch die anderen trauten sich nicht. Aber ich: "Ich geh hin und hol ihn mir. Ich werde euch das beweisen." Ich forderte ihn also auf und er sagte: "Das tut mir aber leid, ich kann nicht tanzen." "Na, das könnte ich Ihnen aber beibringen." Eigentlich so schüchtern und zurückhaltend, ich wundere mich bis heute, dass ich diesen Schritt gewagt habe. Vielleicht spürte ich einfach: Der ist es!

Mein Gerhard fand so viel Gefallen am Tanzen, dass wir sonnabends nun immer ins Ratseck gingen, und mittwochs ins Kino. Oben auf dem Balkon in der letzten Reihe konnten wir so schön kuscheln, da sah uns niemand. War das alles aufregend. Aufregend schön!"

Aufgezeichnet von Juliane Primus

 

Anneliese Nennmann wurde am 27. November 1931 in Lychen geboren und hat hier ihr gesamtes Leben verbracht. Nach der Schneiderlehre arbeitete sie zunächst als Änderungsschneiderin im Kleiderkonsum und zeitweise als Verkäuferin im HO. 1974 machte sie sich in der Vogelgesangstraße als Schneiderin selbstständig und nähte zahlreichen Lychenerinnen ihre Brautkleider – natürlich mit Stoffen aus dem Westen.

 

Der Text ist zuerst in der "Neuen Lychener Zeitung" erschienen.

zur Übersicht

Newsletter

Im Frühling, Sommer, Herbst und Winter: Viermal im Jahr verschicken wir unseren Newsletter mit Neuigkeiten aus der Memoiren-Manufaktur und Fundstücken aus der Welt der Biografien. Bleiben Sie auf dem Laufenden!

Ich akzeptiere die Datenschutzerklärung und stimme dem Newsletter-Tracking zu, damit die Inhalte für mich optimiert werden können.

Impressum Datenschutzerklärung Pressespiegel